Kunstfasern

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Kunstfasern

Die Geister, die wir riefen! Immer wieder lesen wir in den Schlagzeilen von giftigen Kunststoffen bei Schuhen und Textilien, ganz zu schweigen von Kinderartikeln aus Plastik. Es wird gewarnt vor den krebserregenden Stoffen PAK (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) und Phthalaten (Kunststoffweichmacher), die sind allerdings nur Chemikern ein Begriff.

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Spielzeug wird regelmäßig von der AGES (Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit) überprüft und es werden dabei jährlich ca. 4 % der Proben als „ernste Gefahr“ eingestuft. Einen Teil davon machen die chemischen Inhaltsstoffe aus.

Diese Kontrollen fehlen jedoch bei den Textilien, weil eine Kennzeichnung der Inhaltsstoffe nicht Pflicht ist. Die Kunstfaser hat ein lange Geschichte und war in ihren Anfängen sogar der „Stoff, aus dem die Träume sind“, wie z.B. die Perlon und Nylonfaser.

Wunderfasern und Wunderfäden

Nach dem II. Weltkrieg traten wir in die Plastikwelten ein: Außer Nylon und Perlon, wurden Dralon, Diolen und Trevira zum Inbegriff der „Wirtschaftswunderfäden“! Die neuen Fasern waren wesentlich feiner als die herkömmlichen Textilfasern, aber auch reißfester. 1938 hielt der Du Pont-Manager (Du PontChemiker waren die Erfinder dieser Faser) Charles Stine seine in Fachkreisen berühmt gewordene Rede:

„Ich kündige hiermit zum ersten Mal eine absolut neue Kunstfaser an … die erste von Menschenhand hergestellte organische Textilfaser, die ausschließlich aus Materialien des Mineralreichs besteht … charakterisiert durch extreme Zugfestigkeit und Stärke … Obwohl es aus nichts anderem als gängigen Rohstoffen wie Kohle, Wasser und Luft besteht, kann Nylon zu Fäden gezogen werden, die stark sind wie Stahl, fein wie ein Spinnennetz, aber geschmeidiger als jede gebräuchliche Naturfaser, mit einem wunderbaren Glanz.“

Nulon wird Nylon

Nylon Perlon
© Ingrid Raab
© Ingrid Raab
© Ingrid Raab

Mit Nylon begann alles! Diese synthetische „Seide“, versprach die Erfüllung des alten Menschheitstraums, Stoffe und Bekleidung in beliebiger Menge herstellen zu können, unabhängig von den bisher verwendeten Rohstoffen. Und ein Artikel sollte diese Nylonfaser weltberühmt machen: die Damenstrümpfe! Weil Damenstrümpfe aus der neuen Faser keine Laufmaschen bekamen – amerikanisch: no run – wurde die Kunstseide zuerst NORUN, dann Neuron und schließlich Nulon genannt. Werbestrategen tauschten in Folge das U gegen ein Y aus und der Siegeszug des Nylon begann.

Vorher jedoch wurde die gesamte Nylonproduktion ausschließlich für militärische Zwecke genutzt, als Amerika 1941 in den Krieg eintrat. Nach dem Ende des II. Weltkriegs erlebte Nylon seinen eigentlichen Triumph – weltweit! Dieser hielt an, bis in den Siebzigerjahren das Nylonhemd als „hautsensorische Panne“ bezeichnet wurde.

Synthetik Hemden in den Siebzigern

Plötzlich juckte, was jahrelang als angenehm und fortschrittlich empfunden wurde. Quasi über Nacht galten Plastiktüten als problematisch (Sie sind es heute noch und immer noch da!) und somit auch das Synthetikhemd, das seit dieser Zeit vom Markt verschwunden ist. Aber erst, wenn man die kulturelle Bedeutung von Perlon und Nylon richtig sieht, versteht man die weitreichende Kritik an Produktion, Konsum und Verträglichkeit von Kunststoffen in den Siebzigerjahren, die sich an der Auseinandersetzung mit Polyamiden der ersten Generation und ihrer Verbreitung – vor allem bei der Bekleidung – offenbart. Auf einmal wurde massive Kritik am Tragekomfort laut: „Beim Schwitzen kleben die Oberhemden der Männer wie Löschpapier am Körper und fühlen sich nass und eklig an. Dazu kommt der damit verbundene Geruch! Dann die elektrostatische Aufladung (knistern) beim An- und Ausziehen, die auch für die Anziehung von Staub verantwortlich ist. Sie neigen zum Vergilben und Waschvergrauung.

Falsche Propaganda

Nylon und Perlon altern – entgegen der ursprünglich propagierten Meinung, unverwüstlich zu sein – banal und ungraziös. Und vor allem – die Brandgefahr!“ Mitten in diese ersten Debatten fiel die Ölkrise. Diese wirkte sich im öffentlichen Bewusstsein auf die Vorstellungen von ungebremstem Wachstum auf der Grundlage unbeschränkter Rohstoffausbeute deutlich aus.

Das „Aus“ für Kunstfasern und Plastik?

Die Öko-Bewegung formierte und etablierte sich, die Naturfaser erlebte ein „Comeback“. Aber haben wir uns endgültig von der Ära der „künstlichen Versuchung“ verabschiedet? Nein, ganz und gar nicht! Im Gegenteil! Der Verbrauch von Synthetics, einschließlich der Polyamide, steigt weiter. Und so lange das nicht in das Bewusstsein der Konsumenten eindringt, wird der Hauptbeweggrund für den Kauf immer der Preis des Produkts sein. Hauptsache billig! Ungeachtet der Tatsache, dass unser Globus bereits regelrecht mit einer Plastikschicht überzogen ist. Die Fische haben es im Magen, die Vögel füttern ihre Brut damit (die daran eingeht) und bei uns Menschen ist es bereits im Blut nachweisbar.

„Verkauft’s mei G’wand, i fahr’ in Himmel!“

Ingrid Raab

www.vintageflo.com

Ingrid schreibt regelmäßig für uns in Ihrer exklusiven Kolumne Was ich noch sagen will.

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